Die Marktkirchenbibliothek – seit 500 Jahren in der Kaiserstadt

Allein über 850 Titel stammen aus dem Zeitraum zwischen 1470 und 1559, als erstmals ein Inventarverzeichnis erstellt wurde. Es sind Kirchenväterausgaben der Humanisten enthalten, wertvolle Messbücher – etwa das Magdeburger Missale von 1480 aus dem Goslarer „Dom“ - und vor allem Schriften von Reformatoren und von deren Gegnern. Außerdem gibt es eine Fülle bisher nicht erzählter Geschichten, die sich um diese Bibliothek ranken. Wie kam sie zustande? Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Blick auf die Eigenart der Goslarschen Reformation werfen.

Die Geschichte

Die Sorge um das Seelenheil und die Anfänge der Goslarer Reformation

Seit der zweiten Hälfte des 13. Jh. war das Bedürfnis gestiegen, etwas für das eigene Seelenheil zu tun: Jahrgedächtnisse und Begängnisse bestimmter Feste wurden gestiftet; mit Stiftungskapital wurden Mess- und Altarpfründen errichtet; davon lebten die Kleriker. Allein an den fünf Pfarrkirchen gab es 68 solcher Stiftungen (meist gehörten ein Haus oder eine Wohnung dazu, außerdem „Präsenzgelder“), dazu kamen die Pfründen der Klöster und vor allem des „Doms“. Die letzte Stiftung erfolgte 1519. Die Anfänge der Reformation in der Freien Reichsstadt Goslar sind, wie an anderen Orten auch, schwer fassbar und damit unterschiedlich deutbar. Es gab auf jeden Fall in Goslar ein tiefgreifendes Unbehagen an der sozialen Situation und damit verbunden einen Unmut gegenüber der großen Schar von Klerikern, die von teils uralten und recht einträglichen Pfründen lebten. Es sind aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert 212 Niederkleriker (also nur Pfarrkirchen, Kapellen und Hospitäler) namentlich bekannt, nur 61 hatten studiert, nicht einer hatte einen Theologie-Abschluss! In Goslar mit seinen 5000 bis 7000 Einwohnern war die Masse von Klerikern besonders auffällig.

I
Feindlicher Herzog in Wolfenbüttel

Durch das Erz des Rammelsberges „blühte“ Goslar noch um das Jahr 1500. Das endete, als HERZOG HEINRICH D.J. 1525/26/27 - nach seinem Sieg in der Hildesheimer Stiftsfehde 1523 mit dem daraus erzielten Kapital - die von seinen Ahnen geleistete Pfandsumme für Forst, Bergzehnten und Berggericht an die Stadt zurückzahlte und sich damit legitim in den Besitz der Bergrechte brachte. Er stellte das Bergwerk unter Zwangsverwaltung und bestritt der Stadt das Recht, mit dem Metall zu handeln. Goslar war damit „nahrungslos“, der nicht-klerikalen Bevölkerung ging es schlecht, 300 Bergknappen wanderten aus. Die Wut war groß, nicht nur gegen den Herzog, sondern auch gegen den ihn unterstützenden Papst – und ganz allgemein gegen „Rom“, denn Streitigkeiten mit der Kirche oder einzelnen Klerikern wurden oft dorthin getragen und in der Regel zugunsten der Geistlichkeit entschieden.

II
Die Einführung der deutschen Sprache in den Gottesdienst war ein Anliegen der Reformation. Hier: Martin Luthers „Deutsche Messe“ von 1526, MKB 316
Die Einführung der deutschen Sprache in den Gottesdienst war ein Anliegen der Reformation. Hier: Martin Luthers „Deutsche Messe“ von 1526, MKB 316
Frühe Regungen

Das Ergebnis dieser Umstände war: in Goslar gärte es! Der Boden für Veränderungen war bereitet. Allerdings hatte das wenig mit dem zu tun, was Luther und andere Theologen seit 1517 in Wittenberg an Veränderungen betrieben. Dort ging es um die Gestaltung des Gottesdienstes und des Abendmahls, um die Geltung der Bibel, um die Autorität von Bischöfen und die Stellung des Papstes. So bleibt es unklar, inwieweit frühe Regungen in Goslar (Anfang der 20er) schon als „reformatorisch“ bezeichnet werden können – oder ob das im Kern Streitigkeiten um Pfründen und Proteste gegen Pfarrstelleninhaber waren, so an St.Jakobi, wo Pfarrer JOHANNES HARDT seine Kapläne JOHANNES KLEPP und THEODIRICUS SMEDEKEN vor die Tür setzte, die dann draußen predigten, vielleicht mit Anklängen an „Wittenberger“ Themen. Allerdings lässt es aufhorchen, dass seit 1523 JOHANNES WESSEL an St.Jakobi amtierte und wohl als erster das Abendmahl mit Kelch für die Gemeinde feierte. Wessel war immerhin im selben Jahr wegen lutherischer Predigt aus Halberstadt vertrieben worden! Auch SMEDEKENs weitere „Karriere“ lässt aufmerken: er übersetze später Luthers Bibel ins Niederdeutsche - was ihn zu einem bedeutenden Beteiligten an der Durchsetzung der Reformation machte! - und wurde nachmals Goslarer Notar.

III
Das Hildesheimer Missale von 1499, bis zur Reformation in den Goslarer Kirchen und Klöstern war es das gültige Mess-Buch
Das Hildesheimer Missale von 1499, bis zur Reformation in den Goslarer Kirchen und Klöstern war es das gültige Mess-Buch
Der Goslarsche Rat und Heinrich der Jüngere

Der Rat der Stadt Goslar wand sich: man wollte es sich nicht mit dem Kaiser und dem Papst verscherzen, andererseits bedrängte HEINRICH D.J. die Stadt. Er – strikter Gegner der Reformation – pochte auf seine Rechte am Rammelsberg. Für Goslar war das eine bedrohliche Konstellation. 1527 brannten neben anderen die dem Herzog gehörenden Klöster Georgenberg und Petersberg; es gab zwei Gründe für diese Taten: einerseits wollte man verhindern, dass der bereits im welfischen Riechenberg verschanzte Heinrich der Stadt noch näher rückte, sich dort „einnistete“ und so Angriffsstellungen gegen die Stadt besetzte, andererseits war es aber auch eine soziale Abrechnung (sicher orientiert an ähnlichen Vorgängen in Deutschland und evtl. auch am sacco di Roma! Der hatte wenige Wochen davor stattgefunden!). Goslar wurde beim Reichskammergericht des Landfriedensbruchs angeklagt.

IV
Amsdorf und Luther

Mitten in der bedrohlichen Auseinandersetzung mit HEINRICH fragte der Rat in seiner Ratlosigkeit in Wittenberg an und holte 1528 auf Luthers Empfehlung aus Magdeburg NIKOLAUS AMSDORF. Der führte den evangelischen Gottesdienst ein und veranlasste die Articuli Jacobitarum mit protestantischen Forderungen, war aber sonst mäßig erfolgreich. Der Rat schwankte weiterhin, stand nach außen nicht zur neuen Lehre, auch machten die dem Zugriff des Rates nicht zugänglichen verbliebenen Klöster und der „Dom“ nicht mit, sondern überhäuften die Protestanten mit Spott und Hohn. Von „reiner Lehre“ konnte selbst in den Pfarrkirchen keine Rede sein. Besonders der Stephani-Pfarrer HEINRICH KNIGGE und der Marktkirchen-Diakon JOHANNES GRAWERT waren verdächtig, „Zwinglianer“ zu sein. Es kam erneut zu Zerstörungen – auch ANTONIUS CORVINUS an der Stephani-Kirche geriet unter Verdacht - ,so dass MARTIN LUTHER sich um den Fortgang der Reformation in Goslar sorgte. CORVIN beteuerte in einer Druckschrift seine Unschuld; LUTHER akzeptierte das und tröstete in einem Brief an die Jakobi-Gemeinde, den er einer Goslarschen Delegation mitgab, diejenigen, die unter den schwierigen Entwicklungen leiden mussten. Dieser Brief befindet sich im Besitz der Marktkirchen-Bibliothek. Im Jahr 1531 wurde erneut AMSDORF geholt, der dem Rat nun eine evangelische Kirchenordnung schrieb. Damit bekannte sich die Stadt über die eigenen Grenzen hinaus öffentlich zur neuen Lehre.

V
Prof. Dr. Ulrich Bubenheimer arbeitet in der Marktkirchen-Bibliothek
Geistiges Ringen in Goslar?

Was hat es nun angesichts dieser besonderen Entwicklung in Goslar mit der Marktkirchen-Bibliothek auf sich? Die Schilderung der Goslarschen Reformation zeigt: herausragendes Merkmal ist nicht ein Ringen um reformatorische Inhalte, um humanistische Bildungsideale o.ä. Damit ist auch die seit 1928 verbreitete Darstellung von Pastor HUGO DUENSING hinfällig. Er hielt die Marktkirchen-Bibliothek für einen „Spiegel“ des Ringens in der Reformationszeit und einen Hinweis auf den Widerstand gegen die Einführung der Reformation in Goslar. Demnach hätten Goslarer Bürger und Geistliche der Pfarrkirchen das jeweils neueste auf dem Buchmarkt gekauft, gelesen, diskutiert – und sich so eine eigene Meinung gebildet über die theologischen Streitpunkte. Tatsächlich aber ist nur bei relativ wenigen Büchern eine Goslarer Provenienz nachweisbar. Die Entdeckung des Reutlinger Forschers Prof. ULRICH BUBENHEIMER, dass der Großteil der Bücher von ANDREAS GRONEWALT umnd damit aus Halberstadt stammt, war der Ausgangspunkt für eine ganz neue Betrachtung des Geschehens. Die geistige Auseinandersetzung mit den Themen der frühen Reformation, wie sie sich in den Büchern spiegelt, fand demnach nicht in Goslar statt, sondern in Halberstadt, hatte aber später erhebliche Auswirkungen in der Kaiserstadt!

VI
Halberstadt

In Halberstadt lief die Reformation sehr viel anders ab als in Goslar. Das hing vor allem damit zusammen, dass die Stadt im Territorium des Erzbistums Magdeburg und damit auf dem Gebiet des mächtigen Fürstbischofs KARDINAL ALBRECHT lag. Er war es, der JOHANNES TETZEL zum groß angelegten Verkauf von Ablass-Briefen losgeschickt hatte – und damit MARTIN LUTHERS Thesen von 1517 provoziert hatte. Schon bald nach 1517 gab es in Halberstadt durchaus reformatorische Regungen. Unter anderen amtierte dort als leitender Kleriker EBERHARD WEIDENSEE. Der war Propst des Augustiner-Chorherrenstiftes St.Johannis; er hatte Kapläne: HEINRICH GEFFERT und JOHANNES WESSEL: die predigten bereits 1521 in der Martinikirche evangelisch und wurden 1523 vertrieben; beide gelangten nach Goslar! Der Landesherr und oberste Kirchenfürst ALBRECHT duldete es nicht, dass in seinem Territorium lutherische Umtriebe stattfanden. Es hatte sich sogar eine Druckerei etabliert! LUDWIG TRUTEBUL hatte diese 1519 eingerichtet und sich dazu aus Nürnberg einen Drucker kommen lassen: LORENZ STUCHS. Man druckte sogar Lutherschriften (!!) und eine deutschsprachige Bibel („Halberstädter Bibel“ 1522, letzte vor Luthers Übersetzung des Neuen Testamentes; wer war der Übersetzer? Etwa WEIDENSEE?!). – Die Ausrüstung der Druckerei landete nach der Vertreibung in Erfurt: dort wurde damit u.a. das Erfurter Färbefaß-Enchiridion gedruckt (1524), das erste Gemeindegesangbuch überhaupt! Das einzige erhaltene Exemplar befindet sich in der Marktkirchen-Bibliothek Goslar.

VII
Bildung und Verfolgung

EBERHARD WEIDENSEE war gelehrter Humanist und pflegte entsprechende Kontakte. Er holte aus Paris den Professor GALLUS und gründete in Halberstadt eine Art „Universität“; dort konnte man humanistische Bildung erhalten; Schüler kamen auch aus Goslar (mit ihren „Pädagogen“)! 1523 wurde Weidensee festgenommen und verhört …, er entkam nach Magdeburg, unter dauerhaftem Verlust seiner Bibliothek. Andere reformatorisch Gesinnte erlitten schwere körperliche Gewalt: der Mönch VALENTIN MUSTÄUS wurde auf Veranlassung des amtierenden Bischofs von Halberstadt in den Keller gelockt und kastriert; seine Bücher wurden besudelt und ins Abort geworfen, u.a. (extra genannt) Augustinbände. Der Domprediger Bartholomäus Hammenstedt entzog sich der Verhaftung durch Flucht nach Magdeburg. Ein zweiter Anlauf zur Reformation scheiterte 1529, als Johann Winnigstedt der Stadt verwiesen wurde; auch er amtierte später in Goslar. 1535 wurden nach Halberstadt gelangte Anhänger der Täuferbewegung ertränkt, weil sie ihrem Glauben nicht abschwören wollten. Der „Triumph“ von Kardinal Albrecht war perfekt, die „Ketzerei“ besiegt.

VIII
Die Handschrift von Andreas Gronewalt in einem seiner Bücher. Nach jahrelangem Ringen ist er zu der reformatorischen Erkenntnis gekommen: Der Glaube allein macht gerecht!
Andreas Gronewalt

Durch die Vertreibungen in Halberstadt waren aber keineswegs alle aus der Stadt verdrängt, die aufmerksam und mit wachsender Sympathie die Entwicklung der Reformation betrachteten, wenn auch im Verborgenen. Einer dieser Gelehrten war ANDREAS GRONEWALT. GRONEWALT ist belegt ab 1514 als Vikar am Domstift Halberstadt, ab 1529 als Vikar am Kollegiatstift Unserer Lieben Frauen in Halberstadt, zeitweise hatte er einen Wohnsitz in Halle; GRONEWALT war auch als Notar tätig. Er war ein humanistisch sehr gebildeter Mönch, hatte eine große Büchersammlung und stand mit vielen Gelehrten in Verbindung, auch mit WEIDENSEE. Anfangs war er kritisch gegenüber LUTHER, lehnte etwa dessen Gleichsetzung des Papstes mit dem Antichrist ab. Mehr und mehr aber stimmte er mit den Jahren den Hauptanliegen der Reformation zu. In eines seiner Bücher etwa notierte er die zentrale reformatorische Erkenntnis: „fides sola iustificat“ – „der Glaube allein macht gerecht“. Gronewalt nahm an Disputationen teil, wohl auch in Wittenberg – und er schätzte, neben ERASMUS VON ROTTERDAM, vor allem PHILIPP MELANCHTHON, den er persönlich kannte. Woher wissen wir das? Wir haben die Handschrift MELANCHTHONS in mehreren von GRONEWALTS Büchern gefunden! GRONEWALT blieb (wohl bis zum Lebensende) in Halberstadt, wurde im Verborgenen zum Anhänger der Reformation. Als er älter wurde (wohl 75 Jahre im Jahre 1535), sorgte er sich um seine wertvolle Bibliothek. ALBRECHT regierte eisern, an Reformation war nicht zu denken (die kam erst 1540 durch Freikauf durch den Rat).

IX
Der reformatorische Bibliotheksraum der Marktkirche. Hier wurden im Jahre 1535 die Bücher des Halberstädter Klerikers und Notars Andreas Gronewalt aufgestellt.
Gronewalts Bücher kommen nach Goslar

So fiel die Entscheidung, den größten Teil der Bücher nach Goslar und damit in Sicherheit zu bringen. Denn in der Freien Reichsstadt war die Reformation seit 1528 erfolgreich - und dritter Superintendent seit 1528 war 1533 der befreundete EBERHARD WEIDENSEE geworden, der nach seiner Flucht aus Halberstadt auch MARTIN LUTHER kennengelernt hatte. Weidensee waren durch die Verfolgung  seine Bücher abhanden gekommen; er klagte sie vergebens ein! Die näheren Umstände der Bibliotheks-Stiftung durch GRONEWALT werden derzeit erforscht. Jedenfalls gab es erst nach diesem Buch-Transfer über die dicht bei Goslar gelegene Grenze zum Erzbistum Magdeburg (zu dem Halberstadt gehörte), in der Gose-Stadt einen nennenswerten Bestand von Büchern, mit deren Hilfe das Studium der Bibel, der Kirchenväter und der Reformatoren samt ihrer Gegner möglich wurde. Das gab WEIDENSEE die Möglichkeit, seine in Halberstadt begonnenen Bildungsinitiativen in der Kaiserstadt neu zu starten; so soll er 1544 versucht haben, im noch katholischen „Dom“ lateinische Vorlesungen zu halten und lateinische, griechische und hebräische Lektionen lesen zu lassen. Weitere Bände aus GRONEWALTS Bibliothek wurden von ULRICH BUBENHEIMER in der Lutherhalle Wittenberg, der HAB Wolfenbüttel, der Bibliothek des Gleim-Hauses in Halberstadt, der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums in Erfurt, der UB Tübingen und der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart nachgewiesen. Auch diese Forschungen dauern an.

X
von Helmut Liersch

Beauftragter für die Marktkirchen-Bibliothek Goslar

Kontakt

Marktkirchenbibliothek

Am Museumsufer 238640 Goslar

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